Das Problem, das vornehmlich in den Geisteswissenschaften die grundlegendste aller Grundsatzdiskussionen betrifft, nämlich die Frage, ob es eine vom Denken unabhängige Realität gibt, findet sich auch in den acht Aufsätzen des vorliegenden Bandes von Bogdanov wieder- allerdings in thematisch abgewandelter Form: Ist ein echtes Verstehen literarischer Werke möglich hinsichtlich der relativistischen Einflüsse, die sich aus der Differenz des Bedeutungskontextes der Entstehungszeit der attischen Tragödie und des Subjekts für den Verstehenden ergeben?
An diese Frage knüpft nicht nur die Identitätsproblematik, die sich aus der zeitlichen Trennung der Ereignisse und den damit einhergehenden, gesellschaftlich wie psychologisch unterschiedlichen Implikationen ergibt, sondern, berücksichtigt man die historische Transferierung von Inhalten in der Zeit, auch das Problem der Differenz. Der hermeneutische Vergleich lässt B. in der Differenz die vermittelnde Beziehung und in ihrem relationalen Charakter eine universale Methodologie erkennen; die Abhängigkeit, in der man sich als wahrnehmendes Subjekt zu irgend etwas befindet, also die unausweichliche und nicht wegzudenkende, ständige Bezogenheit, in der man schon immer und zu allem sich verhält, ist als eine substanzielle Grundbefindlichkeit denkender Wesen zu verstehen.
Nicht aber ist es der Historiker, der zur Geschichte verbindet, sondern die Geschichte soll als das eigentlich Verbindende gesehen werden. Wie können dann unsere Handlungen Einfluss nehmen auf den realen Verlauf der Dinge, sieht doch Bogdanov in der individualisierten Gesellschaft das typisch europäische Merkmal? Während der antike Zuschauer etwa sich indirekt mit dem Helden über die Geschichte mit seinen berühmten Ahnen identifiziert, erschafft sich die moderne Person ihre eigenen Charakter-Masken. Weil das Menschsein prinzipiell nicht identisch mit sich selbst ist, bedeutet Individualisierung eben einen ständigen Prozess in der dialogischen Natur. Für das Subjekt entscheidet sich die Frage nach der Objektivität nur danach, ob es seine oder nicht-seine Welt ist. Über das Medium literarischer Texte tritt das Individuum in Relation mit Anderem, wodurch das Andere erst zur Möglichkeit anderer Geschehnisse gelangt.
Offenbar liegt dem Denkverhalten die Idee zu Grunde, dass das Begreifen des Selbst nur möglich ist in Bezug zum Ausmaß seines Überganges in ein anderes. Der Übergang vom einen zum anderen vergegenwärtigt sich im historischen Metatext. Das Bezogene ist das Außerhumane, die Manifestation des anderen, und das Prinzip des anderen wird so zum Hauptaspekt der Kultiviertheit. Weil das Andere immer auch die Begrenzung des eigenen partikularen Seins bedeutet, ist Selbstheit auch stets Teilhaftigkeit. Im Wechselspiel von Möglichkeit und Wirklichkeit kommt es auf deren Interferenz an, nicht auf die zeitliche Reihenfolge von Bewusstseinsinhalten. Der relativistische Standpunkt (es gibt keine Zeit ohne Bewusstsein, lässt sich nicht auf die Zeit selbst anwenden, wenn man an der semantischen Autonomie der Phänomene festhält. Schon Husserls Begriff des Zeitbewusstseins und der in den Untersuchungen unternommene Versuch einer Neubegründung der Logik sollte diese gegenüber skeptisch-relativistischen Ansätzen sichern. Die Diskrepanz zwischen der Idee und der Realität wird von der Bezüglichkeit, die mit Subjekt einhergeht, durchbrochen und selbst zum Gegenstand der Untersuchung.
Bogdanov erläutert diesen transzendentalen Akt der Wahrnehmung zwischen veränderlicher und statischer Relationalität an Pindars Achter Nemeischer Ode. Jede Handlung hat einen mythologischen Bezug aus dem sie sich erklärt. Umgekehrt schafft der Bezug zum Originaltext durch das Transzendieren der Welt im Hier und Jetzt eine neue Bedeutung. Man kann versuchen, sich der ursprünglichen Bedeutung des Werkes über verstehende Analyse anzunähern. Eine komplexe Ausdifferenzierung führt aber nicht zur höheren Übereinstimmung mit dem Originaltext, da ein jeder Akt des Verstehens von Natur aus die in den Text hineingelegten Bedeutungen transzendiert und damit verändert.
So exemplifiziert Bogdanov am neunten Buch Herodots mit der Geschichte von Xerxes’ Liebe die Differenz zwischen der wirklichen Lebens- und der literarischen Geschichte. Neben der rein äußeren Handlungen und blutigen Auseinandersetzungen wird auch die familiäre Liebesgeschichte als komplexe innere menschliche Welt berücksichtigt, wodurch die Helden nun selbst in die Horizontale innersubjektiver Relationen treten. Der innere Dialog von Ich und Selbst führt auf das Kriterium der Ähnlichkeit. Es ist anzunehmen, dass die äußere Welt dieselbe Struktur trägt wie das innere menschliche Sein. Aurel interessierten in seinen „Meditationen“ die allgemeinen Prinzipien der selbstständigen Seinsweise des Menschen, statische Wahrheiten. Erst die „Bekenntnisse“ des Heiligen Augustinus gaben der dynamischen Suche nach der Wahrheit und ihrem veränderlichen, inneren menschlichen Sein eine Realität. Nur so lässt sich verstehen, warum Herodots Darstellungsweise, die Wiedergabe der geschichtlichen Überlieferung eingebettet in literarischen Charakter, aus dem Text einen echten Mythos erzeugen kann, der nachhaltige Wirkung auf die Geschichte übt.
Dass Ganzheitlichkeit kein Kompendium an Tatsachen ist, sondern Bezogenheit, zeigt auch eine andere Differenz, die zugleich Beziehung ist. Es war Freud, der die Abhängigkeit des individuellen vom kollektiven Bewusstsein erkannte. Die gesamte Realitätsproblematik wird in dieser Auseinandersetzung deutlich und rekapituliert sich im Problem der Geschichtlichkeit selbst. Leider lässt Bogdanov ungeklärt, warum er mit seinem instrumentellen Transzendentalismus und der Annahme einer universellen Logik- wie bei Cassirer oder Levi-Strauss zu finden- Gegensätzlichkeit nur als Erkenntnismodell für in einen binären Modus implementierte Transformationsprozesse der Geschichte begreift und nicht strukturalistisch als autonome Existenz anerkennt.